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911 UND STREICHQUARTETT?
 
von Dirk Rustemeyer
 
 
Kultur ist ein offenes, dynamisches System semiotischer Unterscheidungen, das sich reflexiv auf sich selbst bezieht. Weil jede Beobachtung der Kultur, sei es in Gestalt von Kunstwerken oder Kommentaren, Kultur verändert, gibt es keine externe Beschreibung von Kultur, sondern nur ihre rekursive Multiplikation eigener Unterscheidungen. Das bedeutet den Abschied von einer Wahrheitsästhetik, die, im Modus philosophischer Kritik oder im Modus wahrheitshalti-ger Werke, die Kultur als transparente Einheit von Differenzen behandelt, die sich unter Wahrheitsgesichtspunkten symbolisieren läßt. Eine Theorie offener Systeme schlägt eine Form der Beobachtung vor, die Unterscheidungen markiert, ohne sie als Wahrheiten zu behandeln. Sie unterscheidet sich damit von einer klassischen, dialektisch gebauten Form der Kulturtheorie, die sich als Kritik entwirft, weil sie in den „Werken“ selbst eine subversive Wahrheit vermutet, die der philosophische Begriff artikuliert. Kunst und Philosophie werden im Lichte einer Theorie offener Systeme in diesem Erkenntnisanspruch relativiert – man könnte sagen: kulturalisiert.
 
In Form der Kulturkritik setzt Kultur sich in Distanz zu sich selbst. Dialektische Kulturkritik behauptet, der Kultur die Wahrheit zu sagen: daß sie falsch und ihre Kritik wahr sei. Als Kritik unterscheidet sie zwischen einem besseren oder schlechteren Zustand der Kultur. Sie selbst ist die Operation dieser Unterscheidung, die sich in das Unterschiedene – die Kultur – einschreibt. Kulturkritik ist paradox. Niemand wußte das besser als Theodor W. Adorno, der in dieser Paradoxalität aber den Indikator ihrer Wahrheit sah. Er beschrieb die Mechanismen der „Kulturindustrie“ als Verblendungszusammenhang, aus dem auch Kritik nicht herausführt.
 
 
Demnach wird die subjektive Urteilskraft von den Mechanismen der Kulturindustrie in Regie genommen, Individualität standardisiert und Kunst der Reklame angeglichen. Mediale Inszenierung wiederholt das Immergleiche und zwingt es dem Publikum als Selbstverständliches auf. Unterschiede reduzieren sich zu Schein. Ein neuer Totalitarismus trägt die verführerischen Züge der Warenwelt. Ein marktförmig betriebener Kult des Unterschieds mündet in ein differenzlos geschlossenes System.
 
In ihrer Radikalität ist Adornos Kulturkritik unübertroffen. Sie gehört inzwischen zu dem klassischen Bestand moderner Kultur. Ihr zeitdiagnostischer Gehalt hat auch ein halbes Jahrhundert später scheinbar nichts an Schärfe eingebüßt. Dennoch trifft die Kritik nicht die Komplexitätslage der Kultur, auf die sie zielt. Sie rechnet mit einem geschlossenen System von Bestimmungen als „Totalität“. Aber die Form der Kritik selbst trifft die Unterscheidung, der sie sich verdankt und die sie gegen ihr Objekt einklagt. Als Praxis der Differenzierung ist sie nicht wahrer als ihr Gegenstand. In diesem Eingeständnis liegt weniger Resignation als der Verzicht auf eine Ontologie des Falschen. Wenn es keine wahren Zeichen mehr gibt, die auf mehr und anderes verweisen als auf Zeichen, bleibt der Kritik die Form der Ironie: Sie macht Paradoxien und andere Möglichkeiten sichtbar.
 
 
Indem der Fotograph Toscani die Werbung als einzig mögliche Form der Kommunikation wahrer Bilder betrachtet, praktiziert er die paradoxe Inszenierung einer Bilderwelt der Warenwelt, die Kritik ist, weil sie Reklame ist. Unterschiede zwischen Kunst, Werbung und Kritik werden nicht eingeebnet, aber sie treten in produktive Differenz. Sie wahrzunehmen erfordert eine Urteilskraft, die der Kulturkritiker seit je für sich in Anspruch nahm. Wo ließe sich eine Kultur des Unterschieds, der Protest gegen die Formlosigkeit oder gar die Koketterie mit dem philosophischen Begriff der Idee angenehmer praktizieren als im Porsche 911, ist dieser doch, wie seine Reklame verheißt, als wirkliche Erscheinung eigentlich nur die „Annäherung an eine Idee“ – eine Ware, die sich in der Flüchtigkeit ihrer Verkörperung des Idealen als Ware dementiert und konstituiert?
 
Kulturkritik findet in der Paradoxie der Ware ihre eigene Paradoxie wieder. Als ein offenes System symbolischer Unterscheidungen reproduziert Kultur sich als Praxis der Distinktion. Streichquartette, Sportwagen und philosophische Kritiken sind semiotische Operatoren. Ihr Vergleich als kulturelle Artefakte ist kulturell produktiv, aber er erzeugt keine Wahrheit – sowenig wie Streichquartette oder Sportwagen.
Aber Philosophie, Kunst und Waren folgen in ihrer Formbildungen eigenlogischen Mustern, die sich aus der Geschichte der Felder ihrer Erzeugung als spezifische Möglichkeitsräume ergeben. Darum ist ihre Wahrnehmung und Bewertung nicht beliebig. Der Wert des Streichquartetts, des Sportwagens und der philosophischen Kritik erschließt sich aus dem jeweiligen Unterschied, den sie im System der Musik, Automobile und der Philosophie machen. Für sich sind diese Systeme offen, und ihre Koexistenz gehört zum dynamischen System der Kultur. In ihrer Wahrnehmung, Produktion und Konsumtion bestehen sie nebeneinander – und folgen zugleich einer Logik kultureller Distinktion. – Wer mit dem 911 zum Streichquartett kommt und darüber eine philosophische Kritik verfaßt, die die Dialektik der Kultur reflektiert, mag sich in seiner ästhetischen Kompetenz sozial als Liebhaber des Klassischen symbolisieren. Beobachter können das kitschig finden. Kultur kultiviert die Differenz als offene Möglichkeit.
 
 
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