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Unterscheidungen in der Physik - offene und geschlossene Systeme von Sprache und Repräsentation
 
von Herbert Gerstberger
 
 
    L:    Was habe ich ins Wasser gesteckt?
    S:    Den Tauchsieder.
    L:    (…) - Energie!
 
In diesem authentischen und wohl auch typischen Dialog aus dem Unterricht kann die Phrase (…) je nach Charakter und Situation variieren von „Ja, beziehungsweise “ bis zu „Nein –Dummkopf“! Es handelt sich in jedem Fall um einen Akt der Sprachformung, der aus Menschen, die – ebenso wie Alexander Lurias zentralasiatische Probanden - sagen, was sie sehen und wissen, solche erziehen will, die theoriegeladene Fachsprache reproduzieren.
 
Diese Differenz markiert nicht nur in der Schule eine Problematik, die gesellschaftlich wohl mindestens ebenso brisant ist wie die Kluft zwischen den „zwei Kulturen“ (C.P. Snow). Kann die Vermittlung der naturwissenschaftlichen Subkultur dennoch emanzipatorisch wirken, kann sie der Gefahr der quasi kolonialistischen Attitüde entgehen?
 
Ein erster Schritt zur Besserung ist die Anerkennung dieser Differenz und der Tatsache, dass sie als Unterscheidung von Menschen in einer historischen Situation aus expliziten oder impliziten Gründen hergestellt wurde. Physik, repräsentiert u.a. in der Fachsprache, ist menschengemacht. Dies explizit zu sagen und ihre Tradierung zu rechtfertigen geht jeder Vermittlungsaufgabe voraus. Der Gegenstand der Physik sind physikalische Systeme. Sind sie naturgegeben, stammen Sie aus den Labors?

 
 
Wenn jeder Unterschied erst durch eine Unterscheidung relevant wird, gilt dies auch für „natürliche Arten“. Der Unterschied zwischen Wasserstoff und Uran ist zwar nicht menschengemacht – davon sind jedenfalls Physiker überzeugt –, aber relevant wird er nur, wenn er „festgestellt“, also die jeweiligen Elemente mit ihren Artgenossen „zusammengestellt“ worden sind – von jemandem!
 
Die Unterscheidungen der physikalischen Theorie und der Objektsprache werden allerdings von der Mehrheit der Fachleute tendenziell ahistorisch gesehen; Möglichkeiten menschlichen Einflusses scheinen so nur in der Festlegung von Konventionen gegeben zu sein, wie etwa beim internationalen Einheitensystem. Auf diese Weise geht die für einen reflektierten Begriff des Systems entscheidende Differenz zwischen „Unterschied“ und „Unterscheidung“ verloren.
 
Bereits die Etymologie des Wortes „System“ kann als Hinweis auf „Gemachtheit“ dienen - „systemi“ heißt „Ich stelle zusammen.“ Das im Binnenbereich des Systems Verbindende wird vor dem Trennenden gegenüber dem Außenbereich hervorgehoben. In der Objektsprache der Physik kommt die erste Person – „ich“ - allerdings nicht vor, ebenso wenig wie Befehle und Aufforderungen.

 
 
Und übergreifend, im gesellschaftlichen und historischen Kontext, lässt sich für das naturwissenschaftliche Unternehmen kein konkreter und explizit artikulierender Auftraggeber angeben. Dennoch weist die rhetorische Form von Spencer-Browns Axiom „Draw a distinction !“ auf die Fragen, welche Unterscheidungen von wem aus welchen Gründen getroffen werden, welche davon explizit und welche implizit sind.
 
Die „Mythen der Physiker“ (G. Ch. Lichtenberg) kann man beginnen lassen mit der Ur-Unterscheidung von beobachtendem Subjekt und beobachtetem Objekt. Drastische Extremfälle dieser Polarität sind in der Geschichte der Wissenschaft und der Wissenschaftstheorie topisch geworden: Auf der Seite des Subjekts der Experimentator, der - aller individuellen und sozialen Charakteristika beraubt - nichts weiter tut als Protokollsätze zu produzieren. Auf der Seite des Objekts finden wir die Fiktion des abgeschlossenen Systems, für welches per Definition eine Reihe von Erhaltungssätzen gilt. Der bekannteste ist der Energieerhaltungssatz.
 
Beide Extreme sind durchaus ernst zu nehmen und in ihren segensreichen Funktionen zu würdigen: Der Idealphysiker ist unbestechlich, seine Methoden sind optimal beschrieben und seine Experimente reproduzierbar; das hat aufklärerische und demokratische Potenziale.
 
 
Die Erhaltungssätze wiederum sind ein universelles Kriterium und ein heuristische Mittel zur Erweiterung von Theorien, was sich in spektakulärer Weise in der Elementarteilchenphysik erwiesen hat. Und erst vom Begriff und Verständnis des abgeschlossenen Systems her ist der Schritt zu offenen, dissipativen Systemen wissenschaftshistorisch denkbar.
 
Im eingangs geschilderten Fallbeispiel handelt es sich um zwei Vorstellungswelten, die an der Verwendung getrennter, ja scheinbar sogar konträrer und einander ausschließender Sprachen und Repräsentationssysteme offenbar werden. Der Vorstellung von L. liegt die Abstraktionsleistung der Physik zu Grunde, S. bewegt sich auf der Ebene der Dinge und Phänomene. Eine mögliche Brücke zwischen beiden liegt in der Metapher „hineinstecken“.
 
Leider hat der Lehrer die Möglichkeit der sprachlichen Öffnung nicht nur nicht gesehen sondern durch den unbewussten Gebrauch der Metapher die Schülerin möglicherweise erst auf die Ebene der Dinge gelockt, um sie sogleich wieder von dort zu vertreiben. Eine gute Lösung könnte darin bestehen, den Übergang von der Sprache der Dinge zu der der physikalischen Systeme am Beispiel der Energie zu thematisieren, und die Metapher mit Strukturmerkmalen der Energie als extensiver Größe zu rechtfertigen
 
 
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