Philosophie

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von Manfred Mixner

Der Begriff „open systems“ ist ein Widerspruch in sich. Systeme zu entwickeln heißt immer Phänomene, Erkenntnisse, Elemente, Regeln, Begriffe, Zeichen usw. in einem möglichst geschlossenen Sinnzusammenhang zu stellen. Naturwissenschaftlichen, mathematischen, geometrischen, philosophischen, politischen, sozialen, ökologischen, künstlerischen, architektonischen u.a. Systemen liegen - in der Regel logisch oder spieltheoretisch korrekte - Ordnungsprinzipien zu Grunde, sie zielen somit auf innere Geschlossenheit. In nur begrenztem Umfang lassen sich Systeme von ihrem ursprünglichen Geltungsbereich auf einen anderen übertragen. Geschlossene Systeme sind Phänomene des Normativen. So besehen ist ein offenes System eben kein System mehr. Wenig sind macht es deshalb, wenn man nun das Nebeneinander, die Summe oder die Teilsummen von solcherart Systemen als „open systems“ bezeichnet.

Soll man den reizvollen Anglizismus deshalb aus dem Verkehr ziehen? Gibt es nicht doch eine Gebrauchsform des Begriffs, die Sinn und Bedeutung hat?

Der Versuch sei mit einem fragilen kunsttheoretischen Begriffskartenhaus gemacht, das aus etwas weichen psychologischen und kunstphilosophischen Chips gebaut ist - wenn man kurz den kritischen Atem anhält, wird es schon nicht gleich einstürzen.

Also: Aus unseren Wahrnehmungen entwickeln wir unsere Vorstellungen von Wirklichkeit. Jedes Bewusstsein enthält auf diese Weise die es konstituierende Repräsentation der Wirklichkeit. Dieser Prozess ist an den Gebrauch von Sprache gekoppelt; es ist anzunehmen, dass es ohne Sprache kein Bewusstsein gibt. Die Affirmation der Gültigkeit und Brauchbarkeit der versprachlichten Repräsentation von Wirklichkeit erfolgt in der Kommunikation. Unsere Wirklichkeitsrepräsentationen sind also sprachlich reproduzier- und kommunizierbar und u.a. auf diesem Weg verifizierbar. Die Reproduktionen gehen in die wahrnehmbare Wirklichkeit ein, die wiederum als Repräsentation reproduziert werden kann. Über die verifizierbare Repräsentation von Wirklichkeit hinaus ist es dem Bewusstsein zudem möglich, schier unendlich viele Wirklichkeitsvarianten zu konstruieren: das Bewusstsein kann seine eigenen an anderen Wirklichkeitsrepräsentationen messen, erproben, kann seine Fähigkeiten erweitern, verfeinern usw. Wie genau wir das machen und was in unserem Hirn geschieht, wenn wir imaginieren, ist unklar. Wir können jedenfalls Wirklichkeiten erfinden und dadurch die Potentiale unseres Bewusstseins, unseren Handlungsspielraum erweitern. Wir können uns vorstellen, wie wir dastehen, wenn das, was wir planen, misslingt, was wir davon haben, wenn es sich realisieren lässt.

Kann man solche prospektiven bis fiktionalen (Bewusstseins-) Wirklichkeitsrepräsentationen - dazu zählen auch Kunstwerke (literarische Texte, musikalische Werke, bildnerische Arbeiten, Performances, Installationen etc.) - als „open systems“ bezeichnen? Wohl kaum, denn jede geglückte Wirklichkeitsrepräsentation, jedes „gelungene“ Werk für sich ist als zusammengesetztes und gegliedertes Ganzes (selbst wenn es „interaktiv“ oder „selbstgenerierend“ ist) eben ein geschlossenes System.

Vielleicht könnte die Vieldeutigkeit oder Multifunktionalität eines Systems könnte den Gebrauch des Begriffs „open systems“ rechtfertigen. Kafkas Romane und Erzählungen beispielsweise wurden unter psycoanalytischen, philosophischen, religiösen, soziologischen u.a. Aspekten interpretiert, und jeder dieser Deutungsansätze hat seinen eigenen Sinn, erschließt zumindest eine Dimension der Texte. Kafkas Prosa bleibt trotz ihrer Bedeutungsvielfalt in sich ein hermetisch geschlossene System: „Das Schloss“ bleibt unzugänglich, was immer das bedeutet. Beim nochmaligen Wiederlesen des Romanfragments „Das Schloss“ achte ich weniger auf den Text als vielmehr auf das, was der Text in mir auslöst, ich versuche, nicht darauf zu achten, was der Text über die in ihm enthaltene sinnliche Repräsentation von Wirklichkeit hinaus bedeutet. Im Gegenteil, ich versuche, die Repräsentationen von Wirklichkeit zu vervollständigen, evoziere Gerüche, Geräusche, Stimmungen, Farben, das Hell und Dunkel, die Kälte, die Feuchtigkeit, konstruiere Physiognomie, Räume, Geräte, Fahrzeuge, spüre den Schnee unter den Füßen. Im Lesen verliere ich zeitweise die Selbstwahrnehmung und die Wahrnehmung meiner Umgebung. Ich habe mich der im Text enthaltenen Wirklichkeitsrepräsentation ausgeliefert, wurde Teil einer Imagination, deren Intensität die Buchstaben, die Worte und Sätze, die Kapitel, das Buch verschwinden ließen. Befand ich mich in einem offenen System? Bin ich einer Täuschung erlegen?

Löst man sich vom statischen Werkbegriff (der das Ergebnis einer künstlerischen Arbeit meint) und rückt den performativen Charakter ästhetischen „Handelns und Zuschauens“ ins Zentrum des Interesses, verändert sich die Eigenschaft des „Systems“. Jeder Künstler kennt das: ein Text gewinnt Eigenleben, er „schreibt sich selbst“, entfernt sich vom Ausgangspunkt. Die Musik „entwickelt sich“ in Richtungen, die der Komponist im Voraus nicht abschätzen konnte. Ein Bild „entsteht“. Während der Kunstproduktion, in der Autopoesie zugelassen wird, weiß der Künstler nicht, wie sein Handeln ausgeht, er ahnt, worauf es hinausläuft, vertraut darauf, dass sein Kalkül aufgeht. Der Ausgang des ästhetischen „Spiels“ ist, so lange es andauert, offen. Das Ergebnis ist, wenn es als Werk vorliegt, wieder ein geschlossenes System.

Die ästhetische Performation ist potentiell ein offenes System. Das gegliederte Ganze des Werks kann vom „aufführenden“ Interpreten aufgelöst werden, als ob er sich in einer Art Ekstase das Werk einverleiben, als ob er den Entstehungsprozess des Werks rückgängig machen würde, als ob die Regeln und Zeichen ihre Gültigkeit verlören. Man könnte Aufführung und/oder Rezeption als anti-systemisches Handeln verstehen, in dessen Verlauf sich aus dem geschlossenen System ein offenes System entfaltet. Der Hörer oder Zuschauer anverwandelt sich für die Dauer der „Aufnahme“ des Werkes dem Künstler, er tritt gleichsam aus sich heraus, lässt das Werk in sich entstehen, macht sich den Schaffensprozess zu eigen. Das ein Kunstwerk (nach-)vollziehende Bewusstsein öffnet sich für den Zeitraum, den die Performation in Anspruch nimmt. Und in der Rezeption, die die Regeln und Zeichen der Performance nicht mit einem normativen Begriffs- und Bedeutungsraster abgleicht, sondern als repräsentative Bewusstseinswirklichkeit in eine Art potenzierte Wahrnehmungsumkehr verwandelt, „entfaltet“ sich Bedeutung und Sinn eines Kunstwerks in der Auflösung der Regeln und Zeichen - ja, so entstünde also ein „offenes System“.

„Open systems“ als Phänomene des Performativen - ist dieser Spekulation zu trauen? Ein Rest an Skepsis bleibt, denn das Erlebnis des „offenen Systems“ ist immer nur ein flüchtiges. Ermöglicht uns die begriffsauflösende Kraft der Aisthesis wirklich Ausflüge ins Denken in „offenen Systemen“, oder ist das Außer-sich-Geraten im ästhetischen Erleben eine Illusion? Die Dokumentation solcher ekstatischer ästhetischer Performationen erweist sich jedenfalls wieder als geschlossenes System einer Wirklichkeitsrepräsentation.

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